Die Dinge die uns umgeben, sagen oft mehr über uns aus, als uns bewusst ist. In dieser Serie haben wir alte Menschen gebeten, sich mit einem Gegenstand porträtieren zu lassen, der in ihren Leben wichtig ist. Die Serie lässt die Gegenstände wortwörtlich sprechen: über ihre Besitzerinnen und Besitzer, über sich selbst und über das Verhältnis zwischen Mensch und Ding.
Ein Biedermeier Sessel
Besitzerin: Ilse Mitschka, 98 Jahre
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Wenn Frau Mitschka eines hat, dann ist es Geschmack. Sehen Sie sich um: Hier herrscht schlichte Eleganz. Die zu verbreiten, fällt ihr nicht schwer. Sie hat das einfach im Gefühl. Vielleicht liegt es daran, dass sie früher gerne ins Theater gegangen ist, oder zu Klavierkonzerten. Vielleicht war es auch das Umfeld in der Rechtsanwaltskanzlei, in der sie viele Jahre gearbeitet hat. Oder aber es war schlichtweg der Stil einer Dame von Welt, die zwischen den Großstädten Wien und Berlin gelebt hat.
Frau Mitschka ist in Berlin groß geworden, das war zwischen den Kriegen. Eine schwere Zeit. Das erzählt sie immer wieder, wenn sie sich auf mir niedergelassen hat. Sie heiratete einen Mann und zog nach Wien. Dann wurden die Zeiten noch schwerer. Der Krieg war da, der Mann rückte ein und kam ohne Arm zurück. Dann kamen die Bomben und Wien brannte. Alles, was Frau Mitschka aus Berlin mitgenommen hatte, wurde in Wien zu Asche.
Dann wurden die Zeiten besser und Frau Mitschka wollte nie wieder ihre Habseligkeiten verlieren. Sie arbeitete viel für das gute Leben. Die Familie hatte jetzt eine Tochter. Sie kaufte ein Haus und Frau Mitschka richtete es ein: aus dem Möbelgeschäft in der Inneren Stadt oder mit Geschenken aus der Verwandtschaft.
So habe auch ich meinen Weg in ihr Zuhause gefunden. Meine Polsterfläche ist mit einem feinen Blumenmuster bestickt und das Holz meiner Beine ist poliert. So kommt die feine Maserung des Mahagoni-Baumes besser zu Geltung. Auf mir sitzt Frau Mitschka gerne, wenn sie Besuch bekommt. Links von mir steht noch ein Tisch zum Kaffee trinken, hinten im Zimmer ist der Sekretär zum Briefe schreiben, und schließlich gibt es noch den grün-weiß gestreiften Fauteuil zum Fernsehen.
Wir alle stammen aus der Zeit des Biedermeier und wir passen nicht in dieses Altersheim. Wir nicht, und Frau Mitschka auch nicht. Die Gänge sind kalt und die Einrichtung ist plump. Kein Fünkchen Stil, keinen Hauch von Eleganz gibt es hier. Und die Menschen, die sind unfreundlich.
Wobei das ist Frau Mitschka als "Piefke" in Wien ja schon lange gewohnt. Zumindest sieht man aus ihrem Altersheim auf die Thonethvilla hinaus. Der Blick aus dem Vogelkäfig, wie sie ihr Zuhause manchmal nennt.
Ein Fleischer-Beil
Besitzer: Rupert Wendler, 83 Jahre
Wenn die anderen noch faul im Bett herumliegen, haben Herr Wendler und ich schon viele Stunden gearbeitet. Beim Fleischer ist es nämlich wie beim Bäcker: Arbeitsbeginn ist drei oder vier Uhr morgens. Nur dass das beim Fleischer kaum einer weiß. Darum sagt Herr Wendler zu sechs Uhr früh auch schon "Vormittag". Zumindest war es früher so.
Herr Wendler ist "Reinländer", wie er gerne sagt. Rein vom Land. Geboren wurde er in Sankt Stefan im Rosental, wo seine Mutter einen Gasthof gepachtet hatte. Nebenbei betrieben sie eine Fleischerei. So hatte die Familie immer genug. Auch nach dem Krieg, als es fast nichts gab. Erst wollte Herr Wendler Schmied werden. Für die Lehre hätte er zuhause im Ort bleiben können. Um Fleischer zu werden, musste er allerdings weg. Und da er wegmüssen wollte, wurde er Fleischer.
Heute holt Herr Wendler mich nur noch selten hervor. Die Arbeit mit Axt und Beil fällt ihm zunehmend schwer. "Keine Leistung mehr", meint er. Aber er lacht dabei. Denn er weiß genau, dass er das Handwerk immer noch beherrscht. Wenn auch heute etwas langsamer.
Bei den Kunden war Herr Wendler immer sehr beliebt, auch wenn er manchmal Scherze mit ihnen trieb. Einmal hörte er etwa ein paar Kundinnen wetteifern, wer schon rote Tomaten zuhause auf den Stauden hätte. Da ging er schnurstracks mit einem Eimer rotem Lack in den Garten und pinselte seine grünen Tomaten an. Die Kundinnen staunten später beim Anblick der roten Pracht und das nicht ohne Neid. Weniger lustig fand seine Frau die Geschichte: sie hatte die scheinbar reifen Tomaten wenig später zum Mittagessen herein geholt.
Ich - sein Beil - und die Axt, der Würstelheber, seine Messer: wir alle sind schon lange bei Herrn Wendler. Fünfzig Jahre etwa. "Mein Werkzeug ist alt und ich ich bin alt. Aber zumindest sind wir gemeinsam alt geworden", sagt er. Mit unserer Hilfe kann er nicht nur Schnitzel und Faschiertes, sondern auch acht verschiedene Würstelsorten machen: Selchwürstel, Blutwürste, Breiwürste, Frankfurter, Tiroler Würste, Polnische Würste, Extrawürste und natürlich seine berühmten Knoblauchwürste.
Die haben immer allen am besten geschmeckt. So ist das nämlich im Leben eines Fleischers: vor der Budel sind alle gleich. Ob einer Kommunist ist oder erzkatholisch, spielt vor dem Fleischer keine Rolle. Vielleicht macht das den Beruf auch für Herr Wendler so besonders. “Weil wer normal ist, der wird kein Fleischhauer”, sagt er, lacht und schwingt mich locker in seiner rechten Hand.
Ein Kreuzworträtsel
Besitzer: Dr. Franz Fürlinger, 97 Jahre
In mir stehen sie: Wort für Wort in Reih und Glied. Mal senkrecht, mal waagrecht. Er überlegt und schreibt, bis jedes Kästchen gefüllt ist. Herr Fürlinger liebt Kreuzworträtsel. Er ist Doktor der Sprachen, der alten Sprachen, um genau zu sein. Altgriechisch und Latein. Das Wort ist die Welt für den Altphilologen. Und das Kreuzworträtsel ist sein Spielplatz.
Der Weg zum Wort ging über viele Umwege. Herr Fürlinger studierte, um Arzt zu werden. Doch dann kam der Krieg und er wurde Flieger. Verarzten musste er dennoch Unzählige. Das Weltgeschehen verschlug ihn an die Ostsee, später nach Sewastopol zu den Krim-Tataren und schließlich nach Padua auf die Zahnstation.
Schlussendlich geriet er in britische Kriegsgefangenschaft in Grottaglie. Dort gab es nicht viel zu tun. Was es gab, war Leid. Und kalt war es auch. Zum Glück hatte ein Mitgefangener ein Buch dabei, das konnte er lesen. Wieder und immer wieder. Das Buch stammte von Aristoteles, verfasst in altgriechischer Sprache. So wurde aus dem Flieger ein Altphilologe.
Später wurde er Lehrer. Er stellte seinen Schülern gerne Fragen. Das Perfekt vom altgriechischen "wissen"? Oida, richtig. Und es ist noch aus jedem seiner Schüler was geworden. Egal ob sie aus den Gymnasien Wiener Neustadt, in Währing und Ottakring, aus der Arbeitermittelschule oder aus den Abendschulen kamen. Darauf ist Herr Fürlinger stolz. Auch heute noch.
Wenn er auch mittlerweile wegen seines fortgeschrittenen Alters manche Dinge bleiben lassen muss, – den Dachstein zu bezwingen etwa – so ist ihm dennoch die Liebe zur Geselligkeit geblieben. Darum trifft er seine Schüler und Studienkollegen regelmäßig auf ein gutes Essen, ein paar Gläser Wein und ein mit voller Inbrunst gesungenes "Gaudeamus". Und wenn sich einmal nichts ergibt, so bleibt der dennoch nicht alleine. Denn dann verbringt er viele genüssliche Stunden mit mir, seinem Kreuzworträtsel.
Ein Paar Ski
Besitzer: Johannes Novotny, 78 Jahre
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Wer will jetzt noch behaupten, die Wiener könnten nicht Ski fahren? Herr Novotny hat es sogar hier gelernt! Schon als Siebenjähriger Bub ist er die Weinberge im 23. Bezirk hinunter gebrettert. Damals gab es noch schneereiche Winter, sogar in der Hauptstadt.
Skilift hat er dafür keinen gebraucht. Ja nicht mal richtige Ski waren notwendig, um die Leidenschaft für den Himmel auf Brettern zu erwecken. Auf dem Dachboden des elterlichen Hauses in Wien-Mauer fand er ein altes Paar Holz-Ski. Auf die hat er einfach seine Goiserer Bergschuhe genagelt, das musste fürs Erste reichen. Es waren erst zwei Jahre vergangen seit Kriegsende und es gab nicht viel.
Die Familie war nicht begeistert über seine Liebe zu uns. Sie waren keine Sportler. Und es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass Herr Novotny aus der Reihe tanzte. Nach fünf Generationen war eigentlich klar, dass auch er Lehrer werden würde und nicht Lokomotivschlosser. Doch Herr Novotny wurde Lokomotivschlosser. Und weil alle Eisenbahner in Floridsdorf wohnten, in der russischen Besatzungszone, hielt seine Familie auch ihn für einen Kommunisten, oder zumindest für einen waschechten Linkssozialisten.
Dabei war Herr Novotny immer nur Sozialdemokrat, und selbst das ohne Parteibuch. Die Zeit bei den Bundesbahnen war erfüllend, selbst dann, als es keine Dampflokomotiven mehr gab. Er hat dort gelernt, dass eine Firma wie eine Familie sein kann. Und das nicht nur wegen der "Eisenbahnerkühe", die zwar Kühe hießen, aber Ziegen waren, und die man damals als Angestellter von den Bundesbahnen bekommen konnte. Aber das war alles vor den Privatisierungen.
Seitdem er in Pension ist, nimmt Herr Novotny uns wieder öfter mit auf die Gipfel. Jetzt hat er die Zeit dazu. Zum Glück fährt ein Zug aus seinem Ort direkt zum Kitzsteinhorn. Die Strecke hat er damals mitgeplant. Denn schließlich ist jeder seines Glückes Schmied. Oder seiner Zugverbindung Schlosser eben, wenn man Johannes Novotny heißt.
Ein Pendel
Besitzerin: Karoline Raab, 85 Jahre
Links, rechts. Links, rechts. Links, links, links…Die Antwort lautet Ja. Was auch immer Sie sich gerade gefragt haben, die Antwort steht jetzt jedenfalls fest. So funktioniert das mit dem Pendeln. Sie stellen mir eine Frage und lassen mich in der Luft schwingen, bis ich irgendwann wie von selbst ausschlage. Rechts bedeutet Nein. Und links eben Ja.
Meine Besitzerin, Frau Raab, nutzt mich vor allem dazu, Wasseradern zu finden. Auch das kann man mit Pendeln. Wasseradern liegen oft tief unter der Erde. Und obwohl sie so weit weg sind, haben sie großen Einfluss auf die Menschen hier oben. Wer nämlich sein Bett auf einer Wasserader stehen hat, der wird bestimmt keinen ruhigen Schlaf finden können. Darum pendelt Frau Raab manchmal bei Freunden und Nachbarn mit Schlafstörungen die Zimmer aus. Wenn wir helfen können, freuen wir uns. Und hilft's nix – schad's nix.
Es ist schon viele Jahre her, dass Frau Raab das Pendeln für sich entdeckt hat. Das war in der alten Schalterfabrik in Peuerbach. Frau Raab hat schon als junge Frau angefangen, dort zu arbeiten. Und wenn sie könnte, würde sie auch heute noch dort arbeiten. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Früher war das eben so, sagt Frau Raab. Man musste arbeiten und man musste parieren. In der Schalterfabrik war sie zuerst in der Montage zugeteilt, wo sie mit flinken Bewegungen die Schalter zusammensteckte. Später hatte sie einen der begehrten Plätze in der Kontrollstation, wo man die fertigen Produkte nur noch auf Mängel untersuchen musste.
Frau Raab war es gewohnt zu arbeiten und so machte es ihr nichts aus. Als Ziehkind musste sie schon als Achtjährige mit anpacken bei der Familie, die sie immer als Fremde empfunden hatte. Denn während die Tiefflieger sie im Krieg nächtelang wach hielten vor Angst, und ihre Mutter weit weg auf einem Bauernhof arbeitete, wurde sie von ihnen nie gefragt ob sie nicht herunterkommen möchte zu den anderen. In diesen langen Nächten. Zur Familie.
Aber Frau Raab ist kein Kind von Traurigkeit, bestimmt nicht. In der Fabrik war es immer schön. Bei so vielen Leuten – da wurde geratscht, erzählt und gelacht. Und irgendwann erzählte dann jemand von dem Pendelkurs beim Herrn Ertel. Wasseradern unter der Erde finden? Klingt nicht schlecht, dachte Frau Raab. Und obwohl sie eigentlich sehr neugierig ist, fragt mich Frau Raab gar nicht so oft um Rat. "Weil was ich im Hirn hab, das brauch ich ja nicht nachzufragen", sagt Frau Raab. Und damit hat sie natürlich Recht.
Ein Poesiebuch
Besitzerin: Gertrud Band, 87 Jahre
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Mein Platz ist im Regal. Wir sind vor einem Jahr umgezogen ins Altersheim. Jetzt bin ich meistens alleine. Früher, als Frau Band jung war, wurde ich durch viele Hände gereicht. Diese Hände haben meine Seiten gefüllt. Mit kunstvoll geschwungener Schrift. Heute schreibt doch niemand mehr so schön! Ob es das Fach Schönschrift überhaupt noch in der Schule gibt? Die Zeit, in der ich von Hand zu Hand weitergegeben wurde, ist jedenfalls vorbei.
Die Schwester von Frau Band ist jetzt auch im Heim. Frau Band fühlt sich wohl hier. Aufgehoben. Und viel sicherer als Zuhause. Sie braucht nicht mehr zu kochen und im Haus ist eigentlich immer etwas los. So wird man nicht einsam. Frau Band hatte drei Kinder, ein Sohn ist vor ihr verstorben.
Ihr Ehemann war Dichter. Sie liebt seine Gedichte. Drei Bücher hat er geschrieben. Manchmal liest sie laut aus ihnen vor. Frau Band ist Wienerin. Aus Döbling, neunzehnter Bezirk. Sie liebt das Hochdeutsch, legt Wert auf schöne Sprache. Dialekte findet sie –gelinde gesprochen– unschön.
Ihre Enkelinnen kommen oft zu Besuch. Sie spielen Karten und Essen gemeinsam zu Mittag. Sie interessieren sich aber nicht nur für ihre Großmutter, sondern auch für mich. Das alte Poesiebuch von Frau Band. Sie bewundern mich, weil ich fast so alt bin wie ihre Großmutter.
Kurios, heute schreibt man kaum noch mit Stift auf Papier. Sie staunen auch über die vergangene Welt, die ich zwischen meinen Seiten versteckt halte. "Ehre und Vaterland" sagt man nicht mehr, und die Mädel sind auch nicht mehr Deutsch. Ein liebevoll gezeichneter Soldatenhelm aus dem großen Krieg gilt heute nichts mehr. Für Frau Band hat er immer nur eines bedeutet – das unvergessliche Zeichen väterlicher Liebe.
Ein Radio
Besitzer: Anton Hiebl, 86 Jahre
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Hier bin ich! Noch ein bisschen weiter nach links. Weiter, weiter...ein wenig nach unten...Ja! Jetzt haben Sie mich gefunden! Ich weiß, gar nicht so einfach. Ich bin ja schließlich nicht der Einzige hier.
Über 500 Radios hat er schon gesammelt. 504, um genau zu sein. Kein Wunder also, dass Herr Hiebl ein Radiomuseum eingerichtet hat. Manche von uns sind ja sogar älter als er selbst. Der älteste ist Baujahr 1924 und damit so alt, dass er noch nicht mal ein richtiges Radio, sondern nur ein Detektor ist.
Aber Herr Hiebl kennt jeden einzelnen von uns. Zwar sammelt er auch andere Dinge, denn er hat ein Sammlerherz. Altes Werkzeug oder Batterien, zum Beispiel. Aber wir Radios, wir sind sein ganzer Stolz.
Wenn Sie so wollen, sind wir ein Abbild der letzten 80 Jahre Zeitgeschichte. Wenn sie durch Herrn Hiebls Museum streifen, können Sie dabei auch die Vergangenheit an sich vorbeiziehen lassen. Dort sehen Sie die Volksempfänger aus den dreißiger Jahren mit dem Reichsadler eingraviert. Weiter hinten stehen sich die russischen und amerikanischen Geräte gegenüber und versuchen, sich in technischer Raffinesse und Eleganz gegenseitig zu übertrumpfen. Die amerikanischen Modelle setzen sich durch. Weiter hinten gibt es sie in allen Materialien, Größen und Farben. Auch das Lieblingsradio von Elvis ist hier.
Ich bin wohl trotzdem das schönste Stück der Sammlung – man nennt mich Weltempfänger. Eine Karte zeigt die Weltregionen mit den passenden Frequenzen. Ich empfange aus Tokio genauso wie aus Abijan oder Buenos Aires. Elegante Verarbeitung verbindet sich mit technischer Präzision. Und der Klang… Aber ich möchte nicht eitel sein.
Angefangen hat alles in Wien, wo Herr Hiebl als Schlosser gearbeitet hat. Irgendwann hat erangefangen, die Radios bei Altwarenhändlern zusammenzukaufen. Das war vor 45 Jahren. Ein Bekannter sagte ihm damals, er hätte ein Radiomuseum und zeigte Herrn Hiebl seine 30 Radios. An diesem Punkt hatte der Herr Hiebl aber selbst schon 45. Damit war sein Ehrgeiz geweckt, ein Radiomuseum zu machen, das seinen Namen auch verdient. Heute sind wir 504.
Ein Wanderstock
Besitzer: Alexander Taylor, 76 Jahre
Mit einem Stock geht man den Weg nie alleine. Egal um welchen Weg es sich handelt. Mein Besitzer, Herr Taylor, ist viel herumgekommen in seinem Leben. Aber ich denke, dass er immer noch am liebsten durch die grüne Landschaft Nordportugals geht. Dort war es auch, wo er mich gefunden hat. Auf dem Hügel hinter seinem Haus. Er hat mich aufgehoben, sich abgestützt und aufgerichtet. Dann sind wir los spaziert.
Von Haltung versteht Herr Taylor viel, sie war nicht zuletzt in seinem Berufsleben wichtig. Er wurde in Irland geboren –das merken Sie an seinem Akzent, den er immer noch hat, obwohl sein Deutsch fast perfekt ist. Als junger Mann ging Herr Taylor nach London, er wollte zum Fernsehen. Schon bald moderierte er das "London Weekend Television". Er hatte Talent. Von Natur aus die richtige Ausstrahlung für den Bildschirm.
Aber er wusste auch, dass er hart arbeiten musste, um seine Ziele zu erreichen. Professionalität ist alles, sagt Herr Taylor immer. Die protestantische Arbeitsethik gibt es nämlich wirklich. Auch wenn man aus Irland kommt. Und auch, wenn man sich das hier in Wien vielleicht nicht so gut vorstellen kann.
Später ging Herr Taylor nach Deutschland und arbeitete beim Radio. Schließlich landete er in Wien. Das war im Jahr 1982. Den "Dritten Mann" hat er schon lange davor geschätzt. Hier arbeitete er schließlich als Medientrainer für Unternehmen und Politiker. Und das zu einer Zeit, wo die meisten Menschen in Österreich wohl noch glaubten, ein "Spin" sei eine seltene Riesling-Sorte. Doch Herr Taylor verstand sein Handwerkszeug und arbeitete auch in der alten Kaiserstadt mit den ganz Großen. Thomas Klestil war nur einer von ihnen.
Doch bei aller Liebe zu dieser Stadt, seinem Leben und seiner Familie hier: Es zog Herrn Taylor immer wieder fort. Einmal Wanderlust, immer Wanderlust. Und so geht es bis heute um die Welt: Nach Portugal, nach Südafrika, nach Irland oder Madeira. Und von überall nimmt er einen Stock mit nach Hause. Jeder ist anders, jeder besonders. "Sie sind wie kleine Menschen, die man trifft und kennenlernt", sagt Herr Taylor über uns und lacht dabei. Keine Wanderlust ohne Wanderstock.
Eine Bibel
Besitzerin: Margarete Simanyi, 82 Jahre
Frau Simanyi ist erst spät auf mich gekommen. Wer liest auch schon die Bibel, wenn er jung ist? Außerdem war Frau Simanyi Wissenschaftlerin. Ärztin der Psychiatrie und Neurologie. Ihr Leben war der Wissenschaft verschrieben, dem Nachforschen und der Rationalität. Ich kann es verstehen und bin ihr nicht böse, dass die erste Wahl da nicht auf mich gefallen ist.
Sie hat auch dafür kämpfen müssen, Ärztin zu werden. Denn ihr Vater war dagegen, dass sie die Universität besucht. Doch sie setzte sich durch. Stur war sie immer schon. Sie war "Werkstudentin", so hießen damals die Studierenden, die nebenher auch noch arbeiten mussten. Frau Simanyi gab den Kindern der Professoren Nachhilfe und vervielfältigte Dissertationen. 5-mal-Durchschlag mit der Schreibmaschine. Dabei gab sie Acht, immer ein wenig günstiger zu sein als die "Schreibstube "neben der Universität. So konnte sie sicher gehen, immer Abnehmer zu finden.
Aber natürlich war es nicht allein ihre Sturheit, die sie studieren ließ. Es war auch der Drang, sich die Dinge zu erklären, die auf den ersten Blick unverständlich wirkten. Ebendiese Neugierde trieb sie auch hinaus in Welt. Auf die abenteuerlichsten Reisen durch die Wüsten des Orients, auf hohe Berge und in öde Steppen. Alleine mit dem Auto durch die Sahara, wo der Wind in der Nacht so schön mit den Tüllvorhängen am Auto spielt und die Beduinen am Abend die atemberaubendsten Geschichten erzählen. 560 Kilometer am Jakobsweg mit gebrochenem Knie. Sie lag ihr im Blut, die Reiselust. Bereits als 8-jährige hatte sie sich beim Milch holen davon gemacht und war alleine auf einen Zweitausender geklettert.
Erkenntnissuche und Neugierde waren es schließlich auch, die das Interesse von Frau Simanyi auf mich und die Bibelstudien lenkten. Einmal las sie zwischen meinen Seiten etwas, das keinen Sinn für sie machte. Sie ärgerte sich und wollte verstehen.
Wenn man sie heute fragt, ob sie gläubig sei, lacht sie nur: "Das wäre ich gerne." Aber es ist ihr wichtig, die Dinge im Kontext ihrer Zeit zu lesen. Kritisch gläubig, nennt sich Frau Simanyi. Und ich denke manchmal, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn alle Gläubige mich so lesen würden wie sie.
Ein Kontrabass
Besitzer: Ewald Oberleitner, 81 Jahre
Wie wird ein Buchhändler zum Jazzbassisten? Durch eine Verkettung glücklicher Zufälle. Herr Oberleitner und ich sind einander zum ersten Mal in einer Jazzbar in München begegnet. Der Bassist der Band musste überstürzt abreisen. "Du spielst statt mir!", hatte er zu Herrn Oberleitner gesagt.
Herr Oberleitner hatte damals nur seine Militärklarinette aus dem ersten Weltkrieg dabei, die er sich von der Musikkapelle Leoben ausgeborgt hatte. Die war jedoch so verstimmt, dass man ihm einfach mich, den Kontrabass, hinstellte. Im Laufe des Konzertes verpasste ich ihm ein paar Blutblasen an den Fingern – meine Seite sind sehr dick, wissen Sie – doch am Ende des Abends war unser Schicksal besiegelt.
Eigentlich war Herr Oberleitner durch einen Zufall zur Musik gekommen. Er hatte in Leoben die Lehre zum Buchhändler gemacht. Sein Chef war ein großer Jazzfan und als eines Abends ein berühmter New-Orleans-Jazzer in der Nähe ein Konzert spielte, trug er seinem Lehrbuben auf, sich das Konzert anzusehen. Keine Widerrede.
Ob der Buchhändler das später bereut hat, wissen wir nicht. Ich würde es aber annehmen, denn ab diesem Abend wusste Herr Oberleitner, dass er Musiker werden wollte. So brach er seine Lehre beim Buchhändler ab und ging nach München um Musik zu machen.
Das Leben als Musiker war anfangs aber natürlich alles andere als glamourös. Herr Oberleitner spielte im stadtbekannten Stripclub "Big Dame", wobei ihn die Showeinlage der "Susanne aus dem Schaumbad" regelmäßig aus dem Takt brachte. Später ging er auf Tournee nach Schweden: Jeden Tag spielte er mit Zirkus-Artisten im Park, die Nacht verbrachten sie in Zelten am Campingplatz. Als ihm das schlussendlich zu bunt wurde, inskribierte er in Graz an der Musikuniversität.
Heute ist er nicht nur ehemaliger Hochschullehrer, sondern auch fester Bestandteil der österreichischen Jazzer-Szene. In Wiener Jazzclubs widmet man ihm Jubelporträts, in Innsbruck ist er mit Chet Baker aufgetreten. Dass er auch mit über 80 Jahren noch in unterschiedlichen Formationen auftritt, liegt nicht zuletzt an mir. "Mein Kontrabass hält mich fit", sagt Herr Oberleitner gerne. Und darauf – ich gebe es ja zu – darauf bin ich auch ein wenig stolz.