Diesen Text anhören:

“Schatzi, wenn du da bist, läut bei Nummer 5 an. Aber hab Geduld, ich kann nicht so schnell gehen, weißt eh, meine Füße. Bitte wart einfach und geh nicht weg!”, freut sich meine Tante Else schon am Telefon. Trotzdem summt unmittelbar der Türöffner, als ich nach einem kleinen Abstecher beim Bäcker und mit ihren Lieblingstopfengolatschen unterm Arm vor ihrer Tür stehe und klingle. Es ist Punkt zehn, wie ausgemacht. Ich eile in den zweiten Stock hinauf, frage mich, wie meine Tante diese Treppen bewältigt. Meine richtige Tante ist sie eigentlich nicht, sie ist meine 88-jährige Urgroßtante.  Aber für mich eben meine Tante Else. Und da steht sie schon. Hübsch hat sie sich für mich gemacht. Eine Bluse in fröhlichem Rot, die Haare zu einem Zopf geflochten. Ich falle in ihre Arme und bemerke, dass sie sogar Parfum aufgetragen hat.

Wir machen uns auf den Weg ins Wohnzimmer. Ich sehe den Schmerz in ihren Augen, als sie hochkonzentriert einen Fuß vor den anderen setzt. Jeder Schritt ist eine Qual. Meine Tante Else hat eine seltene Krankheit, bei der sich Wassermengen im Körper ansammeln, die sie fortan mit sich herumschleppt. Die Beine doppelt so dick, das Atmen schwer, weil das Wasser mittlerweile die Höhe der Lunge erreicht hat. Zwanzig Liter haben sie ihr das letzte Mal abgepumpt. Doch noch traut sie sich nicht wieder hin. Erst, wenn es ganz schlimm wird. Ins Krankenhaus nur im größten Notfall. Durch ihre Krankheit hat sie zwei Wirbel eingebüßt, ist einen Kopf kleiner und tut sich schwer, in die viel zu hohen Betten zu steigen. Aber bevor sie jemanden um Hilfe bittet oder gar wem auf die Nerven geht, plagt sie sich unter großer Anstrengung allein hinein. So ist meine Tante Else. Ich überhöre das “Selbst ist die Frau” gekonnt, nehme sie bei der Hand und helfe ihr in den gewichtigen Stuhl. Ich selbst mach’s mir auf der Couch bequem. Wie oft ich als Kind schon hier um den runden Tisch gesessen und mit meinen Geschwistern um das letzte Stück Kuchen gestritten habe. Ich berichte ihr von ihnen, von mir, bringe sie auf den neuesten Stand. Aber das ist sie eh schon, meine Tante ist bestens informiert.

“Du bist jetzt vegan?”, fragt sie mich beim Mittagessen mit Vorwurf in ihrer Stimme. “Nein, ich esse nur kein Fleisch”, schmunzle ich. “Ja, sonst hätt ich dir nämlich Geld gegeben und du holst gschwind ein Backhendl. Hendl is ja eh kein Fleisch”, fährt sie fort. Aber so wurde es eben eine selbstgemachte Kürbiscremesuppe. Wie sie es geschafft hat, den Hokkaido klein zu schneiden, wo ihre Finger doch auch nicht mehr recht mitmachen? “Naja, grob sein kann ich ja immer noch”, scherzt Tante Else. Sie ist so lustig.

Doch immer wieder vergeht mir das Lachen auch wieder. Zum Beispiel, wenn ich erfahre, dass sie die Mittagspflege abbestellt hat, weil die Pension nicht ausreicht. Weil sie sich das Geld lieber aufhebt für Notfahrten ins Krankenhaus. Oder wenn sie von den bürokratischen Hindernissen erzählt, die auch ihr noch aufgebürdet werden. “Wie schreiben’s sich jetzan?”, wurde sie unlängst am Telefon angekeift. Probleme macht ihr alter zerknitterten Taufschein, der nicht mehr klar wiedergibt, ob ihr Name mit “cz” oder “zk” geschrieben wird. Den braucht sie, um die Kirchensteuern zu bezahlen. Obwohl sie eh nicht mehr hingehen kann. Und eben auch nicht mehr ins Meldeamt, um die Sache mit dem Taufschein zu klären. Wo sie sich allerdings am 15. Oktober hingeschleppt hat, ist das Wahlbüro. Jahrelang wurde dafür gekämpft – “auf allen vieren würd ich hin”. Eine wahre Demokratin, meine Else.

Mein Blick fällt auf eine Schachtel mit Tabletten. 15 Stück jeden Tag. Gegen die Schmerzen. Ein Schmerzpflaster hat sie auch, aber nicht das stärkste. Das lehnt sie vehement ab. “Sonst krieg ich ja garnix mehr vom Leben mit.” Ich lass meinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Erinnerungen kommen hoch. Erinnerungen an den alljährlichen Urlaub bei Tante Else: Wir mit den Rollerskates an der Donau, mit Wanderschuhen und Jausenbrot in der Hand oder zusammengekuschelt unter ihrer Bettdecke. Da liegt das Schmetterlingspuzzle, das wir immer vor dem Schlafengehen gemeinsam begonnen – und die Heinzelmännchen dann über Nacht zusammengebaut haben. Meine Tante ist eine Nachteule. Bis tief in die Nacht saß sie früher immer an ihrem Schreibtisch. Heute wird sie um halb 6 niedergelegt und muss in derselben Position auch wieder aufwachen. Auf dem Rücken. Und das, wo ihre Position doch eigentlich die auf der linken Seite ist. Ich werde auf einmal richtig traurig. Obwohl wir heute noch gar nicht auf die Kriegs- und Nachkriegszeit zu sprechen gekommen sind.

Ich muss kurz das Zimmer verlassen und hol mir ein Glas Wasser aus der Küche. Aus dem Schrank fallen mir Tonnen an Süßigkeiten entgegen – Else war immer schon eine Naschkatze. Da kommen mir ihre herrlichen Zitronenschnitten wieder in den Sinn. Die sollte ich das nächste Mal für sie vorbereiten. Ich muss lachen, als ich den Kompostkübel entdecke. Jetzt weiß ich, wofür sie die Gratiszeitungen verwendet, die ihr in die Wohnung fliegen: Der ist tatsächlich mit Zeitungspapier umwickelt. Sie zu lesen, ist ihr mittlerweile zu mühsam geworden. Früher war meine Tante eine Leseratte. Heute informiert sie sich über das Radio – “wenn der Knopf grad nicht spinnt”, dann hört sie sich alle Journale an. Doch bald kommt endlich die neue Lesebrille, dann geht’s vielleicht wieder.

Gedanken lesen kann sie noch, denn als ich wieder das vertraute Zimmer mit den Biedermeiermöbeln betrete, wechselt sie das Thema: “Zum Lamentieren bist net gekommen. Ich hab auch schöne Zeiten gehabt!” Und wir sprechen über ihre Reisen, wie etwa die nach Afghanistan. Und über ihren Aufenthalt in Schweden. Und den in Kanada. Und natürlich über die philharmonischen Konzerte, deren Stammgast sie über Jahre hinweg war. Wie wichtig es ist, sich schöne Erlebnisse fest abzuspeichern – “da zehrt man das ganze Leben dran”.

Ich richte ihr noch das Radio, damit sie auch dieses Jahr bloß nicht das Silvesterkonzert verpasst – obwohl ich mir fest vorgenommen habe, sie davor noch einmal zu besuchen. “Tschüss, du schöne Maid. Das nächste Mal bleibst aber länger!”. Ich hab sie so gern, dass es wehtut. “Bis bald, Else”. Ich umarme sie und mach mich auf den Weg. Sie winkt mir vom Küchenfenster aus, bis ich verschwunden bin. So wie früher.

Illustration von Barbara Zilinska

Barbara Schechtner
Barbara Schechtner Barbara Schechtner ist im Sommer aus dem Ausland zurückgekehrt – dort absolvierte sie ihren Bachelor an der Universität Sevilla, ein Praktikum in Hamburg und eines in Nicaragua. Sie liebt es zu schreiben und tut es nun unter anderem für das profil (Portfolio) und die Grazer WOCHE. Für OIDA war sie an ihrem Lieblingsplatz, nämlich unter Menschen, und sprach mit Alt und Jung. Etwa über das schönste aller Themen: über die Liebe.