v.l.n.r.:  Alexander Hanika, Franz Kolland, Anja Weiberg und Karl Blecha.

Franz Kolland, Jahrgang 1954, ist Soziologe und Gerontologe. Er beschäftigt sich mit Altenbildung, der Kultur des Alters, verschiedenen Lebensstilen und der Nutzung neuer Technologien.

Karl “Charly” Blecha, Jahrgang 1933, übergibt im April sein Amt als Präsident des Pensionistenverbandes. Er war in den 80ern Österreichs Innenminister.

Anja Weiberg, Jahrgang 1968, lehrt am Wiener Institut für Philosophie. Ihre Schwerpunkte sind Ludwig Wittgenstein, Ethik und angewandte Ethik.

Alexander Hanika, Jahrgang 1957, arbeitet seit 37 Jahren als Statistiker und Demograph in der Statistik Austria. Er leitet den Bereich Analyse und Prognos.

Kolland: Was Altsein eigentlich ist, ist nicht klar zu beantworten. Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man es betrachtet. In der Gesellschaft findet sich selten jemand, der sich subjektiv alt fühlt.

Hanika: In der Demographie wird das Alter nach den Lebenszyklen definiert: bis 19 Jahre Kindheit und Jugend, zwischen 20 und 64 Jahren das Erwerbsalter und schließlich ab 65 das Pensionsalter.

Kolland: Aus einer sozial-gerontologischen Perspektive gibt es mehrere Zugänge. Der wichtigste ist die Pensionierung. Das Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit ist in unserer Gesellschaft ein markantes Kriterium. Diese Pensionsgrenze ist aber für sehr viele keine Altersgrenze. Erst 15 bis 20 Jahre später, mit 80, beginnt die Mehrheit sich subjektiv als älter zu fühlen.

Blecha: Man muss da schon unterscheiden, das Alter hat zwei Seiten. Das eine ist das Geburtsdatum, da wird eine Zahl bestimmt. Und das zweite ist ein Fühlen. Fühlt man sich alt? Fühlt man sich noch nicht alt?

Weiberg: Ja, da spielt die Facette des psychisch-intellektuellen Alters eine Rolle. Wer fühlt sich alt und warum – hier kommen biologische, soziale, aber auch individuelle Faktoren zum Tragen, die sich noch dazu gegenseitig beeinflussen.  Der soziale Status und das finanzielle Einkommen z.B. wirken sich häufig auf die Gesundheit (und damit auch auf das biologische Alter) aus. Auch die Berufstätigkeit. Ein Beispiel von Simone de Beauvoir: Ein Bergarbeiter ist mit 50 oft „ein erledigter Mann“. Die gleiche Person in meinem Beruf hingegen kann, wenn nicht etwas dazwischenkommt, bis 80 oder sogar länger gut vor sich hinarbeiten.

Kolland: Wir haben das Alter lange mit dem Begriff „Ruhestand“ verknüpft. In der Industriemoderne sind Menschen nach 40 Jahren Arbeit an den Rand ihrer körperlichen Möglichkeiten gekommen und es war klar, dass sie dann in den Ruhestand treten. Heute ist dieses Ruhestandsmodell überholt. Die Dienstleistungsgesellschaft produziert anders, hat andere Wege der Erwerbsarbeit und wird daher auch andere Wege der Pension haben.

Ruhestand ist etwas Entsetzliches Karl Blecha

Blecha: Ruhestand ist etwas Entsetzliches. Es gibt heutzutage fast keinen Pensionisten mehr, der sich als „im Ruhestand“ bezeichnen lässt, weil der Name schon negativ besetzt ist.

Weiberg: Ja, den Punkt der Bewusstwerdung „Ich bin jetzt alt“ gibt es wohl nicht. Also im Sinne von einer Gesamterfahrung als alter Mensch. Natürlich kann ich sagen: So langsam fangen meine Gelenke zu schmerzen an, das Stiegensteigen wird problematisch, manche Dinge sehe ich gelassener, manche Arbeiten kann ich aufgrund meiner Erfahrung schneller und besser erledigen. Aber das heißt nicht, dass ich mich gesamt als alter Mensch konzipiere.

Kolland: Für viele Menschen markiert die Großelternrolle die Grenze zwischen Erwachsenenphase und Altersphase. Im Gegensatz zu früher erreicht ja heute die Mehrheit der Bevölkerung dieses Alter.

Hanika: Dass jetzt viele Menschen älter werden hängt damit zusammen, dass Generationen nachrücken, die von Kriegsverlusten verschont geblieben sind. Und weil starke Geburtsjahrgänge wie die Babyboomer der 60er jetzt ins Pensionsalter kommen. Diese Generation ist im Durchschnitt wohlhabender, besser gebildet, gesünder.

Weiberg: Das stimmt, aber allgemein ist das Altsein in unserer Gesellschaft nach wie vor mehrheitlich negativ konnotiert. Es existiert viel Altersdiskriminierung. Das geht so weit, dass selbst die Mitglieder der eigenen sozialen Gruppe sich distanzieren, wie beispielsweise Jean Améry aufgezeigt hat. Das finden wir ansonsten in keiner sozialen Gruppe so vor, außer eben in der Gruppe der alten Menschen.

Blecha: Bei uns im Pensionistenverband gibt es Leute, die sich alt fühlen und solche, die das weit von sich weisen. Manche fühlen sich mit 90 nicht alt, andere sind 65 und fühlen sich sehr alt. Oft betrifft das Menschen, die gegen ihre Wunschvorstellung in Pension gehen müssen und beim Pensionsantritt das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden.

Das Ausschweigen des Alters scheint ein gesamtgesellschaftliches Problem zu sein, auch von allen Betroffenen selbst. Anja Weiberg

Weiberg:  Es ist ja auch bezeichnend, wie Esther Vilar herausgearbeitet hat, dass man von „den Alten“ nur spricht, wenn sie nicht dabei sind. Ansonsten sucht man nach „schöneren“ Bezeichnungen: „die reiferen Mitglieder unserer Gesellschaft“, „Betagte“, „Oldies“, „Senioren“. Die Frage ist: Warum empfinde ich es als herablassend, wenn man mich „alt“ nennt? Das Ausschweigen des Alters scheint ein gesamtgesellschaftliches Problem zu sein, auch von den Betroffenen selbst.

Blecha: Also, ich selbst fühle mich nicht alt, weil ich ständig etwas zu tun habe. Ich bin durch viele Gespräche mit älteren Menschen draufgekommen, dass es mir im Vergleich zu ihnen noch sehr gut geht.

Weiberg: Es ist nach Simone de Beauvoir auch immer der andere, der mich als alt festlegt, als Kellner, als wissenschaftliche Mitarbeiterin und so weiter. Aus meiner eigenen Perspektive hingegen: Wieso soll ich alt sein, wenn ich immer noch ich bin? Ich sehe zwar mein Spiegelbild, meine Falten und grauen Haare, aber ich kann „das Alter“ nicht in mein Bewusstsein aufnehmen, in dem Sinn, dass ich mich darauf festlegen lasse.

Kolland: Gesellschaften haben eben ihre Stereotype. Behinderung, Religion, sexuelle Orientierung, Geschlecht – auch Alter ist eines dieser Diskriminierungsmerkmale. In unserer Gesellschaft kann man noch relativ ungeniert altersdiskriminieren, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.

Blecha: Es gibt auch nach wie vor eine Missachtung der Leistungen, die ältere Menschen in die Gesellschaft einbringen können. Der Spruch „Der ist zu alt dafür“ ist leider immer noch viel zu häufig. Zu sagen: “Das ist nichts mehr für die“, ist in einer alternden Gesellschaft eine nicht hinzunehmende Diskriminierung.

Weiberg: Dabei wird seit Jahrzehnten versucht, das negative Altersbild durch die Betonung positiver Entwicklungen zu konterkarieren. Hier kommt allerdings leider oft die Idee des „eigenverantwortlich gut Alterns“ ins Spiel. Da heißt es: „Sie haben jetzt bessere Möglichkeiten, also nutzen Sie diese!“ Ich habe oft den Eindruck, Altern wird als neuer, nochmaliger Leistungssport vermittelt und betrachtet.

Hanika: Aber die alten Menschen sind in Wahrheit eine große Chance für die Gesellschaft. Sie können viel beitragen: im Ehrenamt, in Kirchen, gemeinnützigen Vereinen und ähnlichen Institutionen. Sie können sich mit ihrer Erfahrung und freien Zeiteinteilung einbringen. Eine wichtige Rolle kommt ihnen auch in der intergenerationellen Unterstützung zu – vor allem, wenn beide Elternteile berufstätig sind.

Ich glaube, dass viele Familien ohne den Großeltern nicht zurechtkämen. Franz Kolland

Kolland: Ja, die Großelternrolle ist eine sehr wichtige Rolle in unserer Gesellschaft. Ich glaube, dass viele Familien ohne den Großeltern nicht zurechtkämen.

Weiberg: Es ist eine seltsame Überlegung, dass Pensionisten doch bitte Freiwilligenarbeit verrichten sollen. Es ist eine Verunglimpfung von Menschen, uns beweisen zu müssen, warum wir noch für sie zahlen sollten und warum es Sinn macht, dass sie noch da sind.

Kolland: Naja, das Alter selbst hat sich verändert – und verändert sich weiter. Es ist eine Möglichkeit, sich in der dazu gewonnenen Lebenszeit neue Wege zu erarbeiten. Ein alter Mensch vor 50 Jahren war anders, als ein alter Mensch heute. Die demographische Dividende bedeutet, dass wir länger leben – und zwar nicht unbedingt mit Defiziten, Krankheit oder in Abhängigkeit.

60 ist das neue 40. Alexander Hanika

Hanika: 60 ist das neue 40 – weil die Lebenserwartung steigt. Momentan liegt sie bei etwa 80 Jahren. Und mit jeder Sekunde, die man überlebt, steigt die Restlebenserwartung. Wenn man 20 ist, dann ist man dem Risiko entronnen, mit 18 einen Disco-Unfall zu haben. Wenn man 55 ist, dann ist man dem Risiko entronnen, mit 50 an einem Herzinfarkt zu sterben, weil man so ein hektisches Leben geführt hat oder stark geraucht hat.

Kolland: Außerdem war ein alter Mensch vor 50 Jahren anders als ein alter Mensch heute. Die demographische Dividende bedeutet, dass wir länger leben – und zwar nicht unbedingt mit Defiziten, Krankheit oder in Abhängigkeit.

Hanika: Senioren sind auch zu einem großen wirtschaftlichen Faktor geworden. Es gibt seniorengerechte Produkte, Seniorenreisen, Wellness. Sie sind ein wichtiger Markt.

Kolland: Ja aber das Leben bedeutet nicht, Geld zu verdienen und dann zu konsumieren. Wofür? Wo ist da der Sinn? Noch dazu hat nicht jeder die Möglichkeit dazu. Es gibt Menschen, die gesund sind, die Familien und Wohlstand haben – die haben sicher ein gutes Leben. Aber es gibt auch Menschen, die weniger verdient haben, die nicht gesund sind – da besteht natürlich die Gefahr der sogenannten Altersarmut.

Blecha: Genau. Ich bin aber nicht bereit hinzunehmen, dass die Ungleichheit in unserer Gesellschaft wächst – dem muss man entgegentreten. Aber eigentlich trifft die Ungleichheit die Jungen viel stärker als die Alten.

Kolland: Das ist eine sehr wichtige Frage im Zusammenhang mit Alter. Zwischen den Generationen findet eine ständige Verhandlung statt. Bis ins 19. Jahrhundert waren nur sehr wenige alte Menschen da, man hat da nicht von Last gesprochen. Das Gefühl der Last ist erst durch den demographischen Wandel entstanden.

Blecha: Meiner Meinung nach ist das etwas, worüber wir mehr reden sollten: Wie alte, alleinstehende Frauen vereinsamen, wie es zu unglaublichen Defiziten der menschlichen Bedürfnisse kommt. Dagegen muss man auftreten und betonen, dass wir eigentlich was erreichen wollen. Und zwar mit den Jungen und nicht auf Kosten der Jungen.

Kolland: Ich habe die Vorstellung, dass sich Dinge so ändern, wie die Menschen sie machen. Nicht umsonst hat Emile Durkheim gesagt, jede Gesellschaft hat die Kriminalität, die sie verdient. Und jede Gesellschaft hat das Alter, das sie verdient.

Blecha: Meine Utopie ist eine Gesellschaft der Freien und Gleichen: Immer stärker werdenden Freiheitsbeschränkungen müssen wir beseitigen, der Freiheit den Weg ebnen und mehr Gleichheit unter den Menschen in der Gesellschaft herbeiführen, die es heute nicht gibt. Und ich wünsche mir, dass ich am gesellschaftlichen Leben voll teilnehmen kann, bewusst und zielgerichtet das eine oder andere noch mitbewirken darf. Und ich möchte mit den Jungen zusammenarbeiten.

Weiberg:  Wenn wir jetzt über die Zukunft sprechen: Für mich persönlich wäre es ein Irrtum, mir jetzt etwas vorzunehmen, was ich im Alter gerne wäre oder hätte. Ich muss Stück für Stück realisieren, wie sich das Alter entwickelt und mich langsam an die verschiedenen Entwicklungen herantasten. Daher sind für mich die Strategien des „Tarnens und Täuschens“ im Sinne der Versuche, jünger zu wirken, eher kontraproduktiv.

Kolland: Mir ist wichtig, dass mich immer Menschen begleiten. Es würde mich sehr unglücklich machen, wenn die Menschen sterben, mit denen ich mich austausche und ich überlebe. Keine soziale Einbettung zu haben, keine Menschen zu haben, mit denen man sich versteht.

Blecha: Ja und die schlechten Erlebnisse darf man vergessen. Man soll nicht alles vergessen, das ist wichtig zu betonen. Aber man muss die Fähigkeit, das Negative zu vergessen, entwickeln und fördern. Erst dann ist der Ausdruck „Vergessen hält jung“ verständlich.

Illustration: Julia Heinisch
Grafiken: Margit Körbel

Alexander Polt
Alexander Polt Alexander Polt liebt es zu schreiben. Am liebsten schreibt er über Menschen und Politik. Neben dem FH-Studium absolviert er einen Master in Politikwissenschaft und versucht, möglichst viel journalistische Praxiserfahrung zu sammeln. Für OIDA fuhr er ins Waldviertel und nahm sich den Herausforderungen an, die den Alltag im “Land der Alten” prägen.
Gabriele Scherndl
Gabriele Scherndl @Ela_Scherndl Gabriele Scherndl machte ihren Bachelor in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Sie schreibt als freie Journalistin unter anderem für Datum und News und genießt es, in stundenlangen Gesprächen hinter die Kulissen blicken zu dürfen. Für OIDA fuhr sie in einem Kleinbus voller 24-Stunden-Pflegekräfte nach Rumänien. Dort begleitete sie eine Pflegerin zu ihrer Gerichtsverhandlung und verliebte sich in das Rehkitz, das diese in ihrem Garten aufzieht.
Elisa Tomaselli
Elisa Tomaselli Elisa Tomaselli hat Romanistik und Politikwissenschaft studiert. Sprachen und Politik sind daher ihre treuen Wegbegleiter. Neben Cumbia-Rhythmen bewegen sie allen voran gesellschaftspolitische Themen, die sie am liebsten in Reportagen verpackt. Für OIDA ist sie deshalb nach Rumänien gefahren. Im Pflegerinnenbus wollte man sie zum Glauben bekehren. In Biled hat sie viel Kraut gegessen, Tiere gestreichelt und drei Tage mit einer resoluten Pflegerin verbracht, die von einer Agentur geklagt wurde.